Mit Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes wagt sich Clemens J. Setz erstmals auf das Gebiet der Kurzprosa. Christian Dinger bespricht den Erzählband, der mit seinen surrealistischen, kafkaesken, expressionistischen und phantastischen Mitteln den vorherrschenden psychologischen Realismus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur herausfordert.
Von Christian Dinger
Gut sei etwas, hat Clemens J. Setz einmal über Literatur gesagt, wenn man es seiner Familie nicht vorlesen kann. Und die Geschichten aus seinem neuen Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes gehören wahrlich nicht zu jenen, die man auf Familienfeiern zum Besten gibt. In nicht wenigen von ihnen geht es um Gewaltphantasien, Sadomasochismus, das Auftreten von Urängsten – kurz: um die Abgründe des Menschen. Dabei bedient sich der Autor surrealistischer, kafkaesker, expressionistischer und phantastischer Mittel und sprengt damit den psychologischen Realismus, der seit langer Zeit unangefochten die deutschsprachige Gegenwartsliteratur beherrscht.
Die Figuren in Setz Erzählungen sind von einer einnehmenden Einsamkeit geprägt, die der Erzähler mit voyeuristischem Blick einfängt. Es geht um Menschen, die isoliert sind, sich selber isolieren oder isoliert werden und mit ihren Dämonen kämpfen. Da ist der kleine Junge, der seine präpubertären Gewaltphantasien an seinem unterwürfigen Mitschüler auslebt; die Frau, die ihren Freund anbettelt, er möge sie in einen Käfig einsperren – und entsetzt ist, als er es dann tut; eine karrierebewusste Geschäftsfrau, deren Visitenkarten von einer seltsamen Seuche befallen sind, die auf alles übergreift und sie daraufhin von ihren Kolleginnen angefeindet und verstoßen wird.
Es braucht nur wenige Geschichten, um zu wissen, wohin der Autor uns führen will. Nach wenigen Seiten sind wir auf alles vorbereitet, sei es noch so grotesk. Das mag der Grund dafür sein, dass sich einige der längeren Geschichten etwas anstrengend lesen, weil der Leser bereits eine Ahnung davon hat, worauf es in der Erzählung hinauslaufen wird. Ohnehin liegt die große erzählerische Kraft des Autors in der Kürze, wenn seine verdichteten Sätze etwas Verborgenes berühren, das uns irgendwie anzugehen scheint. So wie die Flügel, die Lilly nach einem harten Arbeitstag gewachsen sind: »schmutzig rosafarbene, verletzlich wirkende Hautgebilde, die wie Gelsenstiche juckten«. Lilly schneidet sich die Flügel ab und spült sie im Klo runter und die Geschichte endet mit dem unscheinbaren, aber in seiner Tiefe kaum zu fassenden Satz: »Die Flügel kamen nie mehr wieder, egal wie lang und hart Lillys Arbeitstage auch waren, bis ans Ende ihres kurzen Lebens.«
In den besten seiner Geschichten umspannen Setz originelle Ideen ein Geheimnis, um das er dann erzählerisch gekonnt umherschleicht, in anderen steht die originelle Idee im Vordergrund, um die sich dann die Handlung spannt. Es hätte dem Erzählband nicht geschadet, wenn man in ihm nur gut die Hälfte der Geschichten (die besten, wie z.B. die erste Geschichte Milchglas, die mit ihren kunstvollen Leerstellen an Kafka erinnert) versammelt hätte.
Man könnte jetzt noch andere Kritikpunkte in die Waagschale werfen. Man könnte darauf hinweisen, dass die Geschichten doch erzählerisch qualitative Unterschiede aufweisen und handwerklich nicht alles lupenrein sei. Man könnte dem Autor vorwerfen, er habe letztendlich doch nur einen »Abenteuerspielplatz für Germanisten« entworfen. Man könnte sogar im altväterlich-gönnerhaften Gestus einiger Rezensenten einwerfen, der Junge habe ja schon mal Talent, aber um wirklich ein großes Werk zu schreiben, müsse er noch einiges lernen (worin neben der Skepsis gegenüber der Jugend des Autors auch eine Verachtung der Kurzprosa mitschwingt).
Aber all das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier jemand angetreten ist, um die träge Gegenwartsliteratur, die sich in den letzten Jahren in Plaudertönen und Familiengeschichten verheddert hat, aus ihren Angeln zu heben und zu erneuern. Ob es ihm gelingen wird, ist eine andere Frage. Aber dass Clemens J. Setz dieses Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat und damit auf den Olymp der deutschsprachigen Autoren vorgerückt ist, kann jeden freuen. Denn es bedeutet Dynamik für den Literaturbetrieb. Und vielleicht bekommen nun noch mehr Leute den Mut, andere Wege zu gehen.