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Spiegelmosaik

Dirk von Petersdorff ist ein emsiger Sammler: Luhmanns Systemtheorie, Hegels Weltgeist, die literarische Romantik, griechische Mythologie, Antike und christliche Religion versammelt er neben Bob Dylans Rolling Thunder Revue und dem Elektropop der 80er und 90er Jahre.

Von Alena Diedrich

Denn »das kommt gut, Heilige zu zitieren auf dem Abflug ins große Egal«. Heraus kommt dabei ein Buch, das unter dem Umschlag schillert wie eine glitzernde Discokugel: eine Reflexion der Welt, die sich um ein verborgenes Zentrum dreht… Und so gibt dieses vielseitige Spiegelmosaik immer unterschiedliche Antworten auf die alten Fragen, die Nach dem Lesen in Petrarcas Briefen aus dem Chaos der modernen Egalität plötzlich wieder auftauchen:

»Was ich erhoffe? – Keine Ruhe«

Petersdorff nimmt uns mit auf eine Zeitreise durch seine früheren Gedichtbände, denn alte und neue Texte hat der Autor für seinen fünften Band zusammengestellt. Ein Substrat aus mehr als zwölf ereignisreichen Jahren als Lyriker. Wie es begann, lesen wir gleich zu Anfang: Petersdorffs lyrisches Ich ist heimatlos, ganz modern und immer unterwegs, ein leerer Bedeutungsträger – »Ich flottiere doch auch nur / auf einer Signifikantenkette«. Selbst im vermeintlichen Stillstand ist es hineingeworfen in die Welt, aus dem Zentrum entlassen, der Metropole entrückt – »Ich bin gesetzt, ich / sitze dezentriert in Delmenhorst«. Es ist in einem modernen Geflecht gefangen, das sich nur noch als permanent fluktuierendes System begreifen lässt. Kein Code, kein Schlüssel, allenfalls eine Do-it-yourself-Religion kann diesen »Laden / im Innersten«, die »Tenne der Sterblichen«, noch zusammenhalten: »die Gebete hast du selbst geschrieben«, heißt es später. Der Lebensentwurf auf ein sinnstiftendes Ziel hin ist dem modernen Vaganten, dem ewigen Nomaden, verwehrt:

Ich führ das Leben eines
Kandidaten und weiß doch nicht

woraufhin?

Was bleibt ist »das obstinate Gemurmel einer / Sprache«, ein lyrisches Stammeln in freien zwar, doch in gebrochenen Versen. Bewegungsfreiheit ist gut, doch inzwischen kreist die Moderne permanent »in Warteschleifen«, ein eher hoffnungsloser, ermüdeter und auch ermüdender Prozess.

»Mein Antlitz? – Faltet sich«

Müde ist auch das lyrische Ich in Petersdorffs neuen Gedichten zuweilen. »Der Ironiker mit 35« – so ein Gedichttitel im Vorgängerband Die Teufel in Arezzo (2004) – hat nun die Mitte Dreißig überschritten und betrachtet in den blockgesetzten Stanzen des Zyklus Die Vierzigjährigen die merkwürdigen Symptome des Älterwerdens:

Der Salzgeruch vom Meer, das war die Frühe,
man tat so viele Dinge ohne Grund –
jetzt ist in deinem Lächeln Mühe,
und bitte kauf dir keinen Schäferhund.

Ganz trochäisch regelmäßig, ohne nennenswerte Überraschungen, doch mit allem Gewicht, bricht das Alter in den Alltag ein: »Und dann fühlst du beim Cremen des Gesichts / Dich wie ein Stein, der fällt und fällt ins Nichts.« Doch die Zeit bringt nicht nur das zunehmende Alter, es bringt auch Veränderung und eine magische Verjüngung, einen neuen Lebensanfang (2007), so der Titel des zuletzt von Petersdorff erschienenen Romans:

My Dear, du bist am Morgen schon erschlafft
Und denkst am Abend, Wellness, Pflege, Schonung,
dagegen schießt dein Sohn mit schöner Kraft
die Tennisbälle durch die Altbauwohnung.

Jedes Glied in der Kette des Lebens – »an der ich zerre«, so hieß es in Lebensanfang – ist doch am Ende erwünschter und notwendiger Teil eines über die Generationen reichenden Kreislaufs. Die magische Verjüngung durch die eigene Familie folgt dem Energieerhaltungssatz: »Bestätigt: Energie geht nicht verloren, / erstaunlich: Diesen Schwung hast du geboren.« Doch hier wird Energie nicht nur übertragen, sie verdoppelt sich durch den Austausch. Aus dem scheinbaren Kontrast zwischen Alt und Jung wird über geteilte oder noch zu teilende Erfahrungen eine Parallele:

Der Mann macht langsam die Krawatte frei
Der Junge schiebt das Mountainbike vorbei.

»Was ich suche? – Ruhe«

Petersdorffs Ich ist mit der Welt verbunden: über die Naturgesetze, über die Mythologie und die Philosophie des Abendlandes, über die Geistesgeschichte, die literarische Tradition und schließlich auch, und vielleicht am stärksten, über das Glücksempfinden angesichts der ewigen Rätsel unseres Daseins:

Und denkst du schon, das Leben ist zerschnitten
Vom Schicksal, den Hormonen, von der Parze,
so unbemerkt von Lust zur Angst geglitten,
denn von den Billardkugeln fiel die schwarze,
dann sind die tausend Sterne der Chemie
ein Rätselbild, und das verstehst du nie.

Buch-Info


Dirk von Petersdorff
Nimm den langen Weg nach Haus. Gedichte
C.H. Beck: München 2010
101 Seiten, 16,95 €

 
 
Ein organischer Lebenskreislauf – »es scheiden und kehren im Herzen die Adern« – ist hier eingebettet in einen regelhaften Lauf der Dinge, die Ruhe eines natürlichen Jahreszeitenzyklus – »Wintertrost« und »Sommerspiele« – den man an der Veränderung der Landschaft ablesen kann, und doch ist ein wesentlicher Weltzusammenhang verlorengegangen. Waren die christlichen Feiertage fest im Kirchenjahr verankert, sind sie in unserer modernen Zeit mehr oder weniger von ihrer ursprünglichen Bedeutung getrennt, mehr oder minder leere Rituale. Der Taufspruch ist neben anderem Papierkram in der »Dokumentenmappe« abgeheftet und auch das heilige Osterlamm muss sich den Gesetzen des Marktes beugen:

So wühl ich oder geh die Außen-Wendeltreppe,
die zur Wohnung führt,
trag die Einkaufskisten hoch. Es ist
ein Osterlamm dabei: aus Teig
mit etwas Puderzucker, der Rücken rund.
Ich steh, les auf dem Bon: ‚Osterlamm, 2,49 Euro‘ –
Und das sind jene Augenblicke,
wo ich neuerdings
gleich aus der Fassung falle, wo es in mir knirscht:
Du armes Lamm, das ich hier balanciere,
wohin hat es dich verschlagen?

Schnell kann man zum entheiligten Opfertier werden, das allein auf weiter Flur nirgendwo mehr so recht Obdach findet, ewig nur im Durch- und Übergang: »Die Freiheit ist eine Tür. Wo ist das Haus?« – Doch für Selbstmitleid bleibt bei Petersdorff eigentlich wenig Zeit. Man beklagt zwar den Verlust von Liedern und gebundenen Formen in der Moderne, doch nur um wenig später vollkehlig das »Bierlied mit Benn« anzustimmen:

Die Szene lässt mich kalt,
ich bin ein herbes Alt;
ein Alt, das muss man merken,
im Herben hat es Stärken.

Beim Spaziergang mit »Karl am Rhein« – wo Clemens Brentano und später Heinrich Heine die Loreley besangen – kann man den Fluss betrachten und selbst zum romantischen Bild werden, friedlich eingebettet in die Landschaft, »so daß, / wer von ferne kam, nur / zwei Männer erkannte.« In der imaginierten Außenperspektive ist eine erhoffte romantische Einheit zumindest temporär wieder hergestellt, ist man dem Ich für kurze Zeit entrissen und findet einen Ruhepunkt in der Kunst. Ganz heimlich versteckt sich dann ein Binnenreim – »waren wir ganz klein« – hinter dem nun idyllisch glitzernden Rhein…

»Wohin ich ziehe? – Hin und Her«

»Die Feier der Kontingenzspielräume kriecht zu Kreuze« könnten böse Zungen angesichts dieser Sehnsucht nach Obdach, Ordnung, Zugehörigkeit behaupten. Vielleicht. Aber sie feiert dabei in Rühmkorfscher Manier den schlingernden Umweg als Ziel der Reise – eine »Krumme / Linie, Lifeline, Lebensring, unendliche // Fahrt«. Der Titel des Bandes deutet es an: Dieser ironische Vagabund nimmt jeden Umweg und ist immer in Bewegung. Er soll ja, so sagt man, »therapeutisch wirken« ein langer Lauf. So finden wir ihn im alten roten Golf, auf dem Mountainbike, mit dem Paddelboot auf dem Fluss, mit der Fähre auf dem ägäischen Meer, »mit dem Bus zum surfen«, zu Fuß durch die Alpen… Und überall findet er nichts als Grenzenlosigkeit, »die Ferne hört nicht auf«. Also »dreh noch eine Runde / durch den warmen Oktober, durch das Blättergeraschel, / auf das nun weicher Regen fällt«. »Nimm den langen Weg« – denn wie soll man auch nach Hause kommen, wenn in Wirklichkeit nicht wir, sondern »der Boden […] unter unsren Füßen« wandert? Der Vergleich mit den frühen Gedichten bringt es zutage: Es kommt wohl einfach auf die Perspektive an, ein Weltgefühl, dann setzt sich ein Fuß vor den anderen, ganz von allein und jede schwere Last transportiert sich magisch und von Zauberhand:

Immer gleiten die Schiffe
Automatisch gesteuert
Durch die Städte mit Fluss
Und das Meer weht hinein,
Böen kämmen die Haare,
himmlisch schweben Container auf.



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 17. Dezember 2010
 Kategorie: Belletristik
 Bild mit freundlicher Genehmigung von Sonja Hauptmannl.
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