Von übermächtigen Vatergestalten, die abwesend umso allgegenwärtiger sind, erzählt Clemens J. Setz zweiter Roman Die Frequenzen. Ein langer komplexer Roman, der tief aus dem Alltag schöpft. Rüdiger Brandis findet: Ein Roman, den man lesen sollte, für den man sich aber Zeit nehmen muss.
Von Rüdiger Brandis
Langsam entfernen sich die Rücklichter des Autos von dem Feldweg, auf dem Alex noch immer mit seiner Mutter steht. Sein Vater jedoch kommt nicht zurück. Auch in seinem zweiten Roman Die Frequenzen erzählt Clemens J. Setz von übermächtigen Vatergestalten, die abwesend umso allgegenwärtiger sind. Er spricht von Sex und Liebe, von Leidenschaft und Hass. Kurz gesagt: Die Frequenzen sind das Leben, ungeschliffen und so pur, dass man meint die Personen durch die Seiten atmen zu hören.
Gerade als er eine passende Formulierung für seine Begrüßung gefunden hatte, wurde der junge Mann am Zugfenster von einem Tunnel überrascht, dessen unvermittelt einsetzende Finsternis ihm wie zur Verhöhnung sein bleiches Gesicht in der zitternden Fensterscheibe vorhielt.
Mit dieser Einstellung startet Setz in Die Frequenzen. Sein Roman liest sich in weiten Strecken wie ein Filmscript, bei dem sich Beschreibungen des Settings mit Dialogen abwechseln. Das Innenleben seiner Protagonisten beleuchtet Setz jedoch ebenso gekonnt und beweist an dieser Stelle einmal mehr seine formvollendete Bildsprache:
Lydia berührte mich von hinten an der Schulter, und mein Herz fiel zu Boden. Ein Kellner, der zufällig gerade vorbeiging, hob es auf und klemmte es sich wie eine Zigarette hinters Ohr.
Lydia ist Alex’ Freundin schon seit Jugendzeiten. Sie kämpft um dessen Anerkennung und Liebe, wird jedoch zunehmend von Alex’ neuer Geliebten Valerie zur Seite gedrängt. Valerie ist eine Psychotherapeutin, zu der sich auch Walter begeben hat. Valerie tut seine Identitätsprobleme jedoch als nichtig ab und stellt Walter als Schauspieler ein, der als vermeintlicher Patient in ihrer Gruppentherapie auftreten soll, um der Situation mehr Dynamik zu verleihen. Eine Fehleinschätzung, die nicht nur Einfluss auf die Gruppenteilnehmer haben soll.
Die Frequenzen ist ein langes Werk, vielleicht an manchen Stellen ein zu langes Werk. Die Handlungsstränge verschränken sich ineinander, bis man das Beziehungsgeflecht gar nicht mehr zu entwirren vermag. Doch genau davon lebt der Roman. Hier wird keine stringente Geschichte erzählt, sondern viele kleine Geschichten, die sich alle auf ihre einzigartige Weise beeinflussen. Hier wird vom Leben erzählt, in all seinen Abgründen, die eigentlich doch keine sind, und in seinen Höhenflügen, die alles andere als hoch sind, denn:
Wenn die sachlichen Aufforderungen eines Geldautomaten bei weitem das Höflichste sind, was dir an einem Tag gesagt worden ist, dann war es ein beschissener Tag.
Setz hat keinen dieser Romane geschrieben, die mal eben an einem Abend oder über das Wochenende gelesen werden. Er braucht Zeit, um sich zu entwickeln und zu wirken. Man liest ihn Kapitel für Kapitel, langsam, um zu begreifen, was hier in Worten vor den Augen aufgebaut wird. Trotz der Komplexität des Romans, der Gefahr, dass man den Anfang der Geschichte vergessen hat, wenn man am Ende angekommen, ist Die Frequenzen ein wunderbares Buch. Es schöpft tief aus dem Alltag und trifft in uns das, was wir jeden Tag sehen und fühlen, aber sofort wieder vergessen.