Die Beantwortung der Theodizee-Frage wird in einem hoch dotierten Wettbewerb ad absurdum geführt – brillant verhandelt Jonas Lüscher in Kraft Fragen von individuellem Glück, Macht und Verantwortung.
Von Vera K. Kostial
Der Universitätsprofessor Richard Kraft scheitert an der Beantwortung der Frage, weshalb alles Existierende gut sei. Nicht mehr und nicht weniger umfasst der zentrale Handlungsstrang in Jonas Lüschers Roman Kraft, erschienen Anfang des Jahres und nun bereits in der 4. Auflage verlegt. Klassisch gewählt für das Subgenre des Campusromans ist der zentrale Handlungsort: die Stanford University in Kalifornien.
Die erzählte Zeit in der Romangegenwart ist sehr kurz gehalten, der Plot ist in weiten Teilen geprägt von Stillstand und schnell nacherzählt: Auf Drängen seiner Ehefrau und zwecks Flucht aus der Enge der Familie fliegt der Tübinger Professor für Rhetorik Richard Kraft nach Stanford, wo er einen früheren Kommilitonen besucht und einen zweifelhaften Forschungsaufenthalt an der Universität absolviert, an dessen Ende nichts weniger als die Lösung einer reformulierten Theodizee-Frage stehen soll: »Theodicy and Technodicy: Optimism for a Young Millenium. Why whatever is, is right and why we still can improve it?« Ausgeschrieben von einem kalifornischen Unternehmer, soll dieses Problem in einem Vortrag von maximal 18 Minuten gelöst werden; die beste Antwort wird mit einer Million Dollar prämiert – ausreichend Geld für Kraft, der damit die beiderseitig herbeigesehnte Scheidung finanzieren, den Unterhalt der Kinder bezahlen und sich so seine Unabhängigkeit zurückkaufen will. Sein Aufenthalt in Stanford bleibt jedoch weitestgehend frei von Ergebnissen, er verliert sich stattdessen in der eigenen Vergangenheit, und am Ende ist eben nicht alles ›right‹.
Im Vergleich zur Handlung der Romangegenwart sind die eingelagerten Rückblicke umso umfangreicher. Hochintelligent wird die persönliche Entwicklung Krafts mit der politischen und gesellschaftlichen Zeitgeschichte der Ära Schmidt und Kohl verbunden. Wir erleben Richard Kraft als äußerst begabten, verschrobenen Einzelgänger, der sich zwecks Ausbildung eines Alleinstellungsmerkmals gegenüber seinen Kommilitonen dem Thatcherismus anschließt, radikalen Liberalismus fordert und eine strikt konservative Lebens- und Familiengestaltung für sich selbst anstrebt. Unsympathisch ist er, ein Egoist auf allen Ebenen, und dennoch muss er einem irgendwie leidtun in seinem verzweifelten Versuch, seine persönliche Freiheit zu erkaufen – durch die siegreiche Beantwortung einer Preisfrage, für die er jegliche persönliche Überzeugung über Bord werfen muss. Denn wie soll ein Richard Kraft, von Haus aus Skeptiker, davon überzeugt sein, dass »alles, was ist, gut ist, und trotzdem noch verbessert werden kann«?
Kraft porträtiert ein tief zerrissenes Individuum, das verzweifelt versucht, ein seinen konservativen Idealen entsprechendes perfekt durchstrukturiertes Leben zu konstruieren, nicht selten auf Kosten anderer. Jede von Kraft erprobte Modellvorstellung wird im Laufe der Erzählung dekonstruiert; ein soziales Leben aufgebaut auf erzwungenen Idealbildern ist schlicht nicht möglich. Die verweisreiche und dichte Erzählweise, mit der Krafts Entwicklung geschildert wird, verlangt den LeserInnen dabei einiges ab. Mit einer ebenso intelligenten Rhetorik, wie sie Kraft in den Mund gelegt wird, lässt der Erzähler seinen Protagonisten hilflos umherschlingern und spart nicht daran, mit bissigem Tonfall den Egoismus und die Nicht-Zielgerichtetheit dessen Handelns vorzuführen. Mit ironisch mitleidigem Ton wird Richard Kraft entlarvt als Marionette seiner eigenen Lebenskonstrukte, denen er hinterherrennt auf der Suche nach einer geordneten Welt, in der er einen privilegierten Status einnimmt – er, der glaubt, alles zu durchschauen, scheitert am Ende. Doch auch dieses Scheitern geschieht nicht ohne Inszenierung seiner selbst.
Kraft ist ein Roman, in dem neben dem universitären Leben vor allem Richard Kraft als gänzlich solitärer, verzweifelter Einsamer im Mittelpunkt steht – und eben nicht innerhalb eines konstruktiven wissenschaftlichen Disputs. Jonas Lüscher gelingt ein beeindruckender Spagat zwischen dem amerikanischen universitären Leben als zentralem Motiv des Campusromans, den wirklich großen Fragen nach dem Guten in der Welt sowie der jüngeren deutschen Geschichte, alles gespiegelt und vielfach reflektiert an und in dem Protagonisten Richard Kraft. Ein sehr dichter, herausfordernder und brillanter Roman.