Im Rahmen des Seminars »Theaterjournalismus« sprach Laura-Solmaz Litschel mit Nina de la Chevallerie und Luise Rist vom Göttinger boat people Projekt. Anlässlich der Premiere ihrer neuen Produktion Black Beauty am 16.02.2013 erzählen die freien Theatermacherinnen über ihre Arbeit mit Menschen, die im Stadtbild oft unsichtbar sind.
Von Laura-Solmaz Litschel
Nina de la Chevallerie, Regisseurin, und Luise Rist, Autorin und Regisseurin, haben 2009 das boat people projekt gegründet. Sie machen seitdem unter diesem Label Theaterstücke mit Flüchtlingen, arbeiten aber auch mit professionellen Schauspieler_innen aus verschiedenen Ländern zusammen, wie zum Beispiel in ihrem neuen Stück Black Beauty, das am 16. Februar 2013 Premiere hat. Der Schwerpunkt Flucht fungiert in ihren Stücken als verbindendes Element. Inzwischen ist das Team auf fünf Leute angewachsen, der Videokünstler Reimar de la Chevallerie, der Komponist Hans Kaul und die Schauspielerin Franziska Aeschlimann sind dazugekommen. Sie arbeiten an den so genannten Rändern der Gesellschaft und versuchen die Menschen, die sie dort treffen, ins Zentrum zu stellen.
Göttingen ist eine Stadt, in denen Menschen verschiedenster Herkunft leben, dennoch sind sie im Stadtbild oft unsichtbar. Durch das Projekt stellen die Darsteller_innen sich vor und zeigen so Lebensrealitäten auf, die von vielen Göttinger_innen im Alltag nicht wahrgenommen werden. Die Schauplätze der Stücke sollen authentisch sein. Die Regisseurinnen lösen sich von traditionellen Theaterstandorten. Deshalb fanden Aufführungen im Stadtteilzentrum Grone statt, wo viele Roma ihre Hochzeiten feiern. In Göttingen ist das boat people projekt das einzige Kultur-Projekt, das in dieser Kontinuität mit Flüchtlingen arbeitet und damit eine Lücke in der Theaterlandschaft füllt. Während es in Hamburg oder in Berlin schon lange Theatergruppen wie Hajusom oder das Ballhaus Naunynstraße gibt, in denen Migrant_innen Theater machen, fehlte Vergleichbares in Göttingen. Nina de la Chevallerie und Luise Rist haben Göttingens Theaterlandschaft durch eine freie Bühne bereichert, die sich aus festen Strukturen lösen kann, mobil bleibt und dorthin geht, wo die Menschen sind.
Laura-Solmaz Litschel: Was ist das boat people projekt?
Nina de la Chevallerie: Wir haben 2009 das boat people projekt gegründet, um mit diesem Label Theaterproduktionen zu machen. Seitdem entwickeln und inszenieren wir gemeinsam Theaterstücke zum Thema Flucht und weitestgehend Migration. Wir arbeiten immer in sogenannten Mischformen, das heißt wir arbeiten mit Flüchtlingen und Bühnenprofis gemeinsam. Für jedes Projekt basteln wir uns so ein Team aus Profis und vom Thema Betroffenen zusammen. 2009 überschlugen sich die Ereignisse. Die Flüchtlingsströme wurden immer stärker und gerieten in den Fokus, das hat uns beschäftigt. Jahre zuvor hatten wir schon einmal zusammen gearbeitet. Wir hatten ein Stück gemacht zum Thema: Afrika und das Fremde. 2009 wurden wir dann von der damaligen Frauenbeauftragten der Stadt Göttingen angefragt, etwas zum Thema Migration zu entwickeln und deshalb haben wir den Faden wieder aufgenommen. Als wir merkten, wie viel Potential das Thema hat, wollten wir weiter daran arbeiten.
L.-S.L.: Welchen speziellen Anspruch habt ihr an Theater?
Nina de la Chevallerie: Wir versuchen die Komplexität von den Dingen, die uns begegnen, abzubilden. Damit der Zuschauer beginnt, sich dafür zu interessieren, allerdings durch die Fiktion.
Denn wir machen kein Doku-Theater, kein O-Ton-Theater, kein rein biografisches Theater, sondern immer verdichtet in der Poesie oder der Fiktion.
Luise schreibt das jeweilige Theaterstück. Dadurch hat jede Figur und jeder Spieler seinen Rahmen. Es gibt niemanden, der nur sich selbst spielt. Als Zuschauer weiß man nicht genau, was ist der Spieler und was ist dazu erfunden. Das wird auch nicht aufgelöst und wir finden das richtig. Wenn du so viel mit Leuten zu tun hast, die eben keine Bühnenerfahrung haben, bist du ja dauernd damit beschäftigt die Grenzen auszuloten. Die Fragen sind: Wie weit kannst du gehen in der Zusammenarbeit? Wie funktioniert Zusammenarbeit überhaupt? Wie funktionieren Zeitverabredungen, Disziplin, und Vertrauen? Das nimmt viel Zeit in Anspruch.
Luise Rist: Wir wollen den Finger in die Wunde legen. Das können wir gar nicht anders. Wir versuchen immer das zu machen, was uns berührt, was dann in der Regel auch die Zuschauer_in berührt. Wir bilden den Prozess ab, den wir selber erfahren haben in der Recherche und der Entwicklung des Stücks.
L.-S.L.: Euer neues Stück Black Beauty läuft am 16. Februar an. Könnt ihr einmal skizzieren worum es darin geht?
Nina de la Chevallerie: Wir haben eine sehr interessante Konstellation bei den Darsteller_innen. Da ist die Göttinger Schauspielerin Sonja Elena Schröder, bekannt als Schauspielerin am JT und seit einiger Zeit Kostümbildnerin für das JT und für boat people projekt. Als zweite Hauptrolle dann Xolani Mdluli, der gebürtig aus Südafrika kommt. Er ist Tänzer und lebt seit einigen Jahren in Belgien. Inzwischen ist er also Europäer, hat aber südafrikanische Wurzeln. Die dritte ist eine junge Schauspielerin, die aus Benin eingeflogen wird: Natalie Hounvo Yepke. Die drei sind alle Profis im Unterschied zu Darsteller_innen in früheren Projekten. Mit Hilfe des Auswärtigen Amtes haben wir die Finanzierung abgedeckt.
L.-S.L.:Was macht ihr, wenn eure Darsteller_innen von Abschiebung bedroht sind?
Nina de la Chevallerie: Das kommt ständig vor. Wir sind ja immer mit den Spieler_innen in Kontakt, wir kennen ihre Situation. Wir schreiben Briefe und Zeugnisse, begleiten Behördengänge usw. Ich kann natürlich nicht beurteilen, wie groß unser Einfluss dann im Endeffekt ist. Aber einer unser Spieler hat mal gesagt: »Wenn ich niemanden gehabt hätte, der mir hilft, wäre ich schon weg.« Wichtig ist, dass jemand da ist von deutscher Seite. Viele Leute, die in Flüchtlingsheimen sitzen, haben ja gar keine Möglichkeit Kontakt herzustellen, die sind oft ganz allein. Es ist sehr individuell, wer was braucht. Anfangs denkt man, wenn es kalt ist, dann packe ich jetzt die alten Winterjacken von meinem Mann zusammen und bring die ins Heim. Aber darum geht’s ja nicht. Das sind junge Leute, die wollen natürlich nicht die alten Winterjacken anziehen, die wollen sich auch modisch kleiden. Man muss rausfinden, was man selbst will und was der andere will. Die reiche Hand Europas, die immer nur gibt: das funktioniert so nicht.
L.-S.L.: Würdet ihr sagen, dass ihr postmigrantisches Theater macht?
Luise Rist: Postmigrantisches Theater heißt ja, dass man die Leute nicht mehr als Migranten bezeichnet, weil sie schon angekommen sind, sie sind postmigrantisch. Deshalb gibt es nicht mehr eine spezielle Sicht von vielleicht den Türken im Ballhaus Naunynstraße, sondern die machen dort ganz selbstverständlich Theater und spielen verschiedenste Rollen. Das ist bei uns zum Teil anders, da wir ja mit Flüchtlingen arbeiten, die noch nicht postmigrantisch sind, fast könnte man sagen: prämigrantisch. Das bedeutet, dass es noch nicht sicher ist, ob sie einen Platz in unserer Gesellschaft bekommen. Und wir arbeiten dementsprechend auch anders. Wir stellen die Leute zwar nicht aus, aber wir stellen sie vor. Auch mit ihren anderen Biografien und Themen. Uns beschäftigt aber auch das Thema Postmigration immer wieder. Wir haben uns überlegt für die Produktion im Herbst mit den sogenannten Postmigranten zu arbeiten. Steht zum Beispiel der junge Roma immer für alle jungen Roma oder kann er in unserem Herbst-Stück (MAHALA DREAMS) ebenso gut einen deutschen Soldaten im zweiten Weltkrieg darstellen? Steht er für das, was er ist, oder spielt er auch eine Rolle? Das Theaterprojekt Naunynstraße in Berlin ist ein typisches Beispiel für solche Überlegungen. Denn da leben mehr Leute, deren Eltern aus anderen Ländern kommen als Deutsche und das Theaterprojekt spiegelt so den Alltag im Viertel. Bei uns in Göttingen spiegeln wir nicht ganz die Gesellschaft, aber das ist der interessante Punkt:
Wir finden nämlich schon, dass es in Göttingen viele Leute aus anderen Ländern gibt, nur hier nimmt man sie nicht so wahr. Sie leben in Stadtteilen, in denen unsere Zuschauer_innen sich nicht so viel bewegen. Deshalb wirkt es für die Zuschauer_innen anziehend und exotisch, dazu stehen wir auch. Auf der anderen Seite wollen wir sagen: Nein, das ist normal, also postmigrantisch. Wir zeigen einen Spiegel der Gesellschaft, aber eben nicht der Gesellschaft, die man hier im Café sitzen sieht.
Diese Selbstverständlichkeit, die das postmigrantische Theater in Berlin zu behaupten scheint, die haben wir hier nicht ganz so. In vielen deutschen Städten gibt es nach wie vor wenig Kontakt mit Migrant_innen.
L.-S.L.: Der Fokus eurer Arbeit liegt auf Flucht und Fluchtgeschichten, wieso ausgerechnet dieses Thema?
Luise Rist: Heimat und Verlust der Heimat ist ja weltweit ein ganz großes Thema. Aus den verschiedensten Gründen verlassen Leute ihre Heimat. Wir können das eben freiwillig tun, aber die meisten, die übersiedeln, gehen ja nicht freiwillig. Es kommen unglaublich viele wegen politischer Verfolgung, wegen des Klimas und viele kommen einfach »nur«, weil sie sich ein besseres Leben im »Paradies Europa« wünschen. Es gibt natürlich auch in Deutschland Fluchtgeschichten, z.B. die unserer Großelterngeneration, die während des Zweiten Weltkrieges fliehen mussten. Das ist ein Thema, das in Deutschland unglaublich vorsichtig behandelt werden muss. Denn wir scheuen uns verständlicherweise die Deutschen als Opfer des Krieges zu bezeichnen. Dann gibt es die DDR-Flucht. Wir kommen über die anderen auch ein bisschen zu unseren eigenen Flüchtlings-Wurzeln. Flucht hat auch etwas mit uns zu tun, mit unseren Familien und Biografien. Es gibt ältere Zuschauer_innen, die sich über die Stücke auch an ihre eigene Flucht erinnern. Wir merken dann oft, dass diese ganzen Geschichten nicht verarbeitet sind und immer noch in den Köpfen der Leute herumspuken.
L.-S.L.: Können eure Stücke also dabei helfen, die scheinbar starren Grenzen zwischen »uns« und »den anderen« aufzubrechen?
Nina de la Chevallerie: Durch Berührung passiert ja immer auch Begegnung. Es entstehen manchmal Netzwerke und Kontakte zwischen Zuschauer_innen und Schauspieler_innen.
Es gehört zu unserem Konzept, dass wir nach den Vorstellungen immer die Zuschauer_innen einladen zu bleiben, um etwas zu trinken und mit den Leuten zu sprechen. Unser Ensemble steht immer hinterher noch zur Verfügung, was oft anstrengend ist für die Spieler_innen. In der Regel bleiben 30 % der Zuschauer nach einer Vorstellung da und stellen Fragen. Da passieren Begegnungen mit Konsequenzen für beide Seiten.
Einer unserer Spieler hat dadurch eine Art Adoptiv-Großeltern gewonnen, die ihn jetzt unterstützen. Das ist doch großartig! Es geht also immer noch weiter.
L.-S.L.: Stichwort »Integration« ist das etwas, worauf ihr mit eurem Projekt hinarbeitet?
Nina de la Chevallerie: Das passiert auf dem Weg. Wir sind kein theaterpädagogisches Projekt, deshalb sagen wir ungern, dass Integration das Ziel ist oder so etwas, auch wenn das gerne gehört wird. Aber natürlich lernen die Leute durch das Projekt gut deutsch, natürlich lernt man was von anderen kulturellen Besonderheiten.
Luise Rist: Es ist der Ensemblecharakter der integriert, diesen Charakter hat man aber auch bei jedem Theater. Ein Ensemble hat ja schon immer etwas was zusammenschließt, – wir denken integrativ.
L.-S.L.: Vielen Dank für das Gespräch.