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Gehen oder bleiben

Das Mittelmeer stellt eine natürliche Grenze zwischen Afrika und Europa dar. Die Überquerung desselben ist für viele die einzige Hoffnung auf ein besseres Leben. Oft geht mit einem Asyl in Europa aber ein fragwürdiger rechtlicher Status einher. Nina de la Chevallerie und Luise Rist, Initiatorinnen der Göttinger Theaterkampagne boat people projekt, geben Flüchtlingen eine Stimme, indem sie sie als Schauspieler ihre eigene Geschichte erzählen lassen. Lilo Ruther interviewte die beiden zu ihrem neuen Projekt Mikili.

Von Lilo Ruther

Lilo Ruther: Wie kam es denn zu der Idee von Mikili?

Nina: 2009 fing unsere Beschäftigung mit dem Thema Flucht an. Mikili ist der dritte Teil unserer Trilogie, bei der Lampedusa, eine Produktion im Göttinger Stadtbus, und Keinsternhotel, das am ehemaligen Göttinger Flugplatz spielte, den Anfang machten.
Luise: In Mikili werden die Themen der vorangegangenen Produktionen Lampedusa und Keinsternhotel aufgegriffen und verdichtet. Mikili – Gehen oder Bleiben bildet den aktuellen Stand unserer Auseinandersetzung mit Flüchtlingen ab. Es geht um die Haltung den Menschen gegenüber, die hier fremd sind und deren Kontexte wir verstehen wollen. Es geht um das Erleben von Fremdheit, das Wechselspiel von Nähe und Distanz.

L.R.: Was ist das boat people projekt?

Nina: 2009 haben wir beide das Theaterproduktionsteam boat people projekt gegründet. Wir setzen uns künstlerisch mit der Flüchtlingsproblematik auseinander.
Luise: Flüchtlinge leben am Rand der Gesellschaft. Diese Randbereiche interessieren uns.
Nina: Wir arbeiten an der Schwelle von Kunst und Politik. Uns interessieren innere und äußere Grenzen, Tabuzonen. Im letzten Stück, All Inclusive, geht es um das Thema Tod…
Luise: …ein übrigens sehr lebendiges Stück!
Nina: Am 20. Dezember haben wir ein Gastspiel mit Teilnehmern aus einer Werkstatt mit seelisch-erkrankten Menschen. Es heißt Grenzland. Unser nächstes Stück wird in Kooperation mit der musa ein Stück mit Roma-Frauen sein.

L.R.: Wie kann man sich so eine Stückentwicklung vorstellen?

Luise: Im Vorfeld überlegen Nina und ich, was wir erzählen wollen und mit wem das möglich ist. Dann schreibe ich das Stück, allerdings nicht ganz fertig. Es ist wichtig, einen Rahmen vorzugeben, der aber für die Probenzeit noch Freiräume zum Schreiben und Inszenieren bietet. Die Figuren und Handlungsstränge sind von realen Geschichten inspiriert, bilden sie aber nicht ab. Ich nähere mich einem Stück immer aus der Distanz heraus.

Das Wort Mikili

Mikili ist ein Begriff, den die boat people projekt-Gastautorin Bibish Mumbu aus Kinshasa mitgebracht hat. Er stammt aus der Sprache Lingála und bezeichnet etwas, für das es in unserer Sprache offenbar kein spezielles Wort gibt. Mikili heißt Europa – aus der Sicht Afrikas. In Mikili steckt das Wort »Welt«, die »Welt Europas« – und außerdem heißt Mikili «Farbe«.

 
 
L.R.: Wie läuft die Zusammenarbeit mit den Flüchtlingen?

Luise: Sehr intensiv, begleitet von kulturellem Lernen auf beiden Seiten, sprachlichen Abenteuern.
Nina: Inzwischen haben wir viele Kontakte in der Szene. Ein paar unserer Spieler gehören inzwischen zu unserem festen Ensemble.

L.R.: Gibt es manchmal auch Hürden mit den Asylbehörden?

Luise: Ja –
Nina: Um den Landkreis verlassen zu können, in dem sie untergebracht sind, brauchen sie einen triftigen Grund. Die Teilnahme am boat people projekt ist kein »triftiger Grund« für die Behörden. Das müssen wir uns hart erkämpfen, dass sie mitspielen können.

L.R.: Welchen eigenen Anspruch habt ihr an eure Produktionen?

Nina: Uns geht es darum, komplexe Zusammenhänge sichtbar zu machen.
Luise: Menschliche und künstlerische Fragen gehen bei unserem Projekt Hand in Hand. Wir arbeiten gleichermaßen politisch wie poetisch.
Nina: Wir versuchen, mit unseren Stücken die Wahrnehmung des Themas in der Öffentlichkeit zu verändern.

L.R.: Vielen Dank für das Gespräch!

Mikili – Gehen oder bleiben, am 29. Oktober 2011 uraufgeführt, ist ein Stück des boat people projekt, zu dem Nina de la Chevallerie, Regisseurin, und Luise Rist, Theaterautorin und Regisseurin, gehören. Mikili ist nun schon das dritte Stück, welches sie zusammen mit Flüchtlingen und professionellen Schauspielern aufgeführt haben. Bei ihren Produktionen arbeiten Nina de la Chevallerie und Luise Rist mit anderen Künstlerinnen und Künstlern zusammen. Hans Kaul, der im Stück zusammen mit zwei Flüchtlingen (Mark Kutha, Maria Tonga) eine Band bildet, hat eigens für das Projekt Lieder komponiert. Zwei Jahre dauerte der gesamte Entwicklungsprozess, für die Proben mit allen Beteiligten wurden nur sechs Wochen Zeit einberaumt. Das mag sehr wenig erscheinen, ist aber aufgrund des besonderen Asylstatus´ einiger Schauspieler nicht anders möglich. Einige sind erst seit wenigen Monaten in Deutschland, zwei erst 16 Jahre alt und gehen noch zur Schule. In Göttingen gibt es keine Flüchtlingsunterkunft. Daher reisen die Flüchtlinge für die Proben aus Witzenhausen oder Kassel an.

Stückvisite

Ines (Franziska Aeschlimann) und Robert (Peter Grünenfelder) machen Urlaub in Italien.
Als sie mit ihrer Yacht aufs Meer hinaus fahren, sehen sie ein untergehendes Flüchtlingsboot. Erschüttert von dem, was sich da vor ihren Augen ereignet hat, gelingt es ihnen, drei der Insassen, Aman (Mikiyas Tadesse Seyoum), Ayana (Selam Debele) aus Äthiopien und Mohammed (Ousmane Sacko) aus Libyen zu retten. Doch was sollen sie jetzt machen? Anlegen können sie nicht, dann würde die Küstenpolizei kommen.
Ines und Robert schwanken zwischen Fürsorge und Misstrauen. »Können wir ihnen vertrauen? Wo sollen die drei Flüchtlinge schlafen? Wir machen uns strafbar. Was ist mit unserem Urlaub?«

Fremdheit, Nähe und Distanz

«Wie kann man leben ohne Glauben?« fragt sich Mohammed, gläubiger Muslim, der mit dem Lebensstil von Ines und Robert konfrontiert wird. Ines und Robert tragen beide weiße Freizeithosen und Sonnenbrillen und haben keine Kinder. Die Verständigung scheint zunächst unmöglich zu sein. Ines und Robert merken, wie wenig sie eigentlich von Afrika wissen. Ines beginnt, sich mit dem Schicksal der Flüchtlinge zu identifizieren. In ihren Träumen und Phantasien vermischt sich das Leben von Ines mit dem von Ayana. Und man merkt, so verschieden sind sie gar nicht. Eine Szene bleibt hier besonders im Gedächtnis, in der Ines auf Schwitzerdütsch und Mohammed in seiner eigenen Sprache spricht. Es geht um Verstehen und Nichtverstehen.

Mikili ist ein anspruchsvolles Stück. Verschiedene Darstellungsebenen wechseln sich ab. Neben schauspielerischem Spiel gibt es auch Videosequenzen, Gesang und musikalische Darbietungen. Manchmal versteht man zwar nicht wörtlich, worum es geht, aber man meint auch so zu verstehen, worum es geht. Ein babylonisches Sprachgewirr ist von den Produzentinnen mitunter gewollt.

Mikili ist mehr als ein Theaterprojekt, es ist ein Integrationsprojekt mit politischem Statement. Das Stück erzählt nicht nur eine fiktive Geschichte, gleichzeitig werden auch die Geschichten der teilnehmenden Flüchtlinge zum Greifen nahe.

Mikili wird noch an drei Terminen im Dezember (11., 12., 13., jeweils um 20.00 Uhr im Goethe-Institut) aufgeführt. Gastspiele in Hannover, Braunschweig und Berlin sind geplant.



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 Veröffentlicht am 15. November 2011
 Kategorie: Misc.
 Mit freundlicher Unterstützung des boat people projekt.
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