Das Deutsche Theater Göttingen führt seine BesucherInnen mit In Alice Welt in Lewis Carrolls Wunderland. Eine wunderschöne Requisite und viele tolle Einfälle machen den Besuch zu einem ganz besonderen Erlebnis. Simon Gottwald berichtet.
Von Simon Gottwald
Nichtsahnend gehe ich mit meiner Begleitung auf den Eingang des DT Göttingen zu, etwas in Eile, weil die Parkplatzsuche sich unerwartet schwierig gestaltet hat. Auf dem Weg zur Kasse sehen wir vor dem Haupteingang ein Schild stehen: Hier Treffpunkt für In Alice Welt steht dort in etwa. Die Eintrittskarten in den Händen, stellen wir uns wenige Minuten später zu den anderen Menschen, die sich um das Schild gesammelt haben und von denen einige dem DT-Mitarbeiter, der kurz vor dem offiziellen Beginn der Vorführung neben dem Schild auftaucht, mehr oder weniger verwunderte Fragen stellen. Als es dann aber heißt, dass der Einlass in Gruppen aus jeweils 20 Personen erfolgt, setzt der Andrang ein: Plötzlich will jedeR ins Wunderland.
Der Weg dorthin ähnelt dem Sturz in den Kaninchenbau, den Lewis Carrolls Alice zu Beginn ihres ersten Abenteuers erlebt. Rechts am Gebäude des DT vorbei gehen wir auf die Tiefgarage des Theaters zu. Je näher wir kommen, desto deutlicher sind schiefe Mundharmonikaklänge zu vernehmen. Sie stammen von einer seltsamen Gestalt, die vor der Tiefgarage steht. Auf einmal brechen die schiefen Klänge ab, die Gestalt stimmt den Grundschulklassiker Mein Hut der hat drei Ecken an, animiert das Publikum zum Mitsingen und präsentiert dabei den eigenen (runden) Hut wie zur Betonung seiner dem Lied widersprechenden Form. An den Wänden der zum Weg hinab umfunktionierten Ausfahrt hängen kreuz und quer verstreut die handgeschriebenen Benimmregeln für den Abend.
Erst dann gelangen wir zum eigentlichen Eingang, wo es im Tausch für die Eintrittskarte die Regeln als Merkzettel gibt. Hier erfahren wir auch, dass wir uns für den Abend voneinander trennen müssen. Eigentlich war geplant, dass wir wie bei der Anfahrt im Auto nebeneinander sitzen. Das „freie Platzwahl“ auf der Karte hätte uns stutzen lassen müssen.
Noch wichtiger aber: Hier bekommt jedeR sein/ihr eigenes weißes Kaninchen zugewiesen, das uns in den folgenden Stunden durch das Wunderland führt. Es trägt einen weißen Overall, eine weiße Perücke, rote Kontaktlinsen, herzförmig aufgetragenen Lippenstift und schwarze Sicherheitsstiefel. Es händigt mir ein Paar Kopfhörer aus, nimmt mich an die Hand und stürmt dann auch schon hinab in das Wunderland.
Hier haben Regie und Dramaturgie zwei ebenso mutige wie lobenswerte Entscheidungen getroffen: In Alice Welt ist keine Inszenierung von Carrolls Romanen, jedenfalls nicht im eigentlichen Sinne –die ZuschauerInnen werden vielmehr in die Welt der Romane versetzt. Und das geschieht, indem jedeR die Hauptfigur im ganz eigenen Stück wird. Eine Bühne im klassischen Sinne einer Guckkastenbühne gibt es nicht – vielmehr ist die gesamte Tiefgarage zur Bühne geworden, mit diversen, voneinander abgetrennten Räumen, in die immer nur wenige ZuschauerInnen geführt werden.
Dabei erleben wir eine weitere Besonderheit der Inszenierung: Auf den Kopfhörern läuft ein aus englischen und deutschen Auszügen von Carrolls Romanen montierter Text, der von verschiedenen Stimmen eingesprochen wurde und zuweilen in einem Stimmencrescendo donnert wie einige Current 93-Songs. Was die DarstellerInnen eigentlich sagen, höre ich nur, wenn ich von dem Kaninchen auf einen Platz in den Zimmern der in dieser Inszenierung zahlreichen Hutmacher geführt werde, der eine direkte Interaktion mit ihnen erlaubt. Das Kaninchen nimmt mir den Kopfhörer ab und lässt mich alleine mit dem Hutmacher und einigen anderen BesucherInnen.
Der Rezensent möchte niemandem die Freude an einem eigenen Besuch in Alice Welt nehmen und kann, bedingt durch die Struktur der Inszenierung, ohnehin nur von seiner ganz eigenen Wunderland-Geschichte berichten. Daher seien hier nur beispielhaft einige Szenen angerissen:
• Ich erhalte Benimmunterricht von einer kleinen Hutmacherin, die frustrierend widersprüchliche Anweisungen gibt und von mir verlangt, in Spiegelschrift verfasste Handschriften zu lesen.
• Ich nehme am riesenhaften Teetrinken teil, das so detailverliebt eingerichtet ist, dass selbst die Zuckerwürfel mehrere Zentimeter groß sind.
• Drei Maler haben Wände und Blumen angemalt. Ein Luftballon wird zu etwas Furchterregendem.
• Die Regeln für das Mühlespiel sind flexibel – es zieht sich effizienter, wenn man kreativ ist.
• Einen Freund sollte ich nur einmal daran erinnern, dass ich ihm Geld geliehen habe – oder war ich es, der sich Geld geliehen hat?
Alice Welt, wie sie im Deutschen Theater Göttingen gezeigt wird, hat nichts von dem Hochglanz der Alice-Verfilmungen Tim Burtons, nichts von der Vertrautheit des schon geradezu klassischen Disney-Films. Viel eher lassen die wie aus aller Zeit gefallenen Kostüme, die gräulich-weiß geschminkten DarstellerInnen und das Sammelsurium der Requisite an Jan Švankmajers Alice-Interpretation denken. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die gedeckten und verblassten Farben, die nur durch die roten Farbakzente des weißen Kaninchens und einen in vielen Räumen liegenden, rot eingebundenen Alice-Band gebrochen werden. Das Wunderland ist kein zwangsläufig sicherer, traumhafter Ort, sondern ein Ort, an dem die Regeln unserer Welt nicht gelten, was einen beunruhigenden, im freudschen Sinne unheimlichen Effekt haben kann.
Am Ende des Abends werden wir schließlich von einem der weißen Kaninchen in eine Art Schlafsaal voller Feldbetten geführt, wir geben unsere Kopfhörer ab und hören die langsam leiser werdende Aufforderung: “Schlaf ein oder wach auf”, was tatsächlich das Gefühl erzeugt, aus einem Traum zu erwachen. Aber es war nicht alles ein Traum, eine kleine Spur des Wunderlandes hat sich in die Realität gerettet: Ein kleines weißes Kaninchen aus Schaumgummi liegt auf jedem Kopfkissen und begleitet die BesucherInnen nach Hause (wenn man nicht so achtlos ist wie der Rezensent, der sein Kaninchen einsam zurückgelassen hat).
Die Inszenierung verlangt den BesucherInnen einiges ab, belohnt sie aber reich dafür, sich auf das Spiel eingelassen zu haben: Mit einem wirklich ungewöhnlichen Besuch im Wunderland, aber auch mit dem Wissen, Teil einer in dieser Form sich nicht wiederholenden Inszenierung gewesen zu sein.