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Kommentar
Fußball, Tod und Glamour

Neues Programm, neues Ensemble, neues Publikum? Beim Pressekaffee des Literarischen Zentrums wird neben den 23 kommenden und reizvollen Veranstaltungen auch eine wichtige Personalveränderung bekannt gegeben, die zur Zielgruppenerweiterung des Hauses beitragen könnte. Ein Kommentar aus der LitLog-Redaktion.

Von Johanna Karch

Die Zeit von Gesa Husemann als Interimsleiterin des Hauses ist mit einer bravourösen Herbstsaison und guten Besucherzahlen zu Ende gegangen. Fortan leitet Anja Johannsen wieder die Geschicke des Zentrums, aber ihre Vertreterin bleibt ihr dennoch erhalten. Gesa Husemann übernimmt künftig die Koordination des Kinderprogramms, da es Marit Borcherding, die mit feinem Gespür und viel Engagement das Projekt »Literatur macht Schule« aufbaute, aus privaten Gründen nach München zieht. Zusätzlich wird Gesa Husemann weiter als Stellvertreterin für Anja Johannsen tätig sein. Die Konzeption des kommenden Hauptprogramms lief weitestgehend unter der Ägide der ehemaligen LitLog-Chefin, was hier und da Spuren hinterließ.

Am 24. Februar wird mit der Lesung des chinesischen Autors und Regime-Kritikers Liao Yiwu nicht nur ein weltliterarischer Coup in Göttingen gelandet, sondern gleichsam die in Kooperation mit der Volkswagenstiftung ins Leben gerufene European Campus of Excellence Spring School »World Literature – Reading and Writing in the Age of Globalisation« vorgestellt. Die Idee eines allgemeingültigen Kanons diskutiert Sigrid Löffler mit dem irakischen Exil-Schriftsteller Sherko Fatah vier Tage später, wobei Löffler eine Neue Weltliteratur (Beck 2013) ausruft, der sie das Prädikat »dynamisch, transnational und ohne festen Wohnsitz« verpasst. Beide Veranstaltungen richten sich dezidiert auch an ausländische Studierende, weshalb sogar Kopfhörer mit Simultanübersetzung ins Englische angeboten werden.

In der Reihe »neu_übersetzt« bespricht die Göttinger Literaturwissenschaftlerin Anke Detken mit der Übersetzerin Ursula Gräfe deren lang ersehnte Neuübertragung von Haruki Murakamis Gefährliche Geliebte ins Deutsche. »Löffler und Reich-Ranicki würden sich über diese gelungene Übersetzung die Hand reichen«, ist sich Anja Johannsen sicher und spielt auf den Vorwurf Sigrid Löfflers aus dem Jahr 2000 an, die die damalige Übersetzung mit dem Umweg über das Englische als »literarisches Fastfood« abqualifizierte und damit den Bruch mit Marcel Reich-Ranicki forcierte.

Ein echter, will sagen fiktionaler Krimi wird am 18. März im Alten Rathaus vorgestellt. Das Buch Täuscher (Hoffmann und Campe 2013) von der preisgekrönten Krimi-Autorin Andrea Maria Schenkel ist nach ihrem in allen Superlativen gelobten Tannöd ein weiterer Bestseller-Anwärter. Volontärin Annie Rutherford weist auf die hervorragenden Besprechungen des Oeuvres hin und lobt vor allem den sozialhistorischen Ansatz, mit dem die Autorin das Genre ausleuchtet.

Perfekt in Szene setzen wird sich Barbara Vinken, die am besten angezogene Literaturwissenschaftlerin Deutschlands, wenn sie im Mai im Bekleidungsgeschäft WOGGON über das regelhafte Diktat des Modegeschmacks von Ludwig XIV bis zur modernen Anzugträgerin doziert. Die Präsentation von Angezogen. Das Geheimnis der Mode (Klett-Cotta 2013) dürfte das glamouröse Highlight des Programms werden.

Neben Haute Couture und Literaturstars von Weltruhm wird dem diesjährigen Sommerprogramm viel Platz für die morbiden bis düsteren Themen eingeräumt. Locken Monika Marons Zwischenspiel (Fischer 2013) und Kai Meyers Phantasmen (Carlsen 2014) noch mit metafiktionalen und magisch-realistischen Erzählungen, so reizt Lukas Bärfuss´ Roman Koala (Wallstein 2014) durch die gänzlich realistische Spurensuche nach dem Warum des Bruder-Suizids. Düstere Szenarien werden auch in den Erstlingswerken von Roman Ehrlich, David Finck und Jan Skudlarek erschaffen, die beim Debütantenball von Gesa Husemann in die literarische Gesellschaft eingeführt werden.

Er muss nicht mehr eingeführt werden, sondern hat trotz des einmaligen Stattfindens schon Kultstatus erreicht: Der hochgelobte »Liederabend« wird mit der Huldigung des jüngst verstorbenen Lou Reed am 7. Juli in die zweite Runde gehen. Gerhard Kaiser, der die Reihe als kundiger Moderator kuratiert, wird sich in einem Glam-Rock-Gespräch mit dem Musikjournalisten Klaus Walter einen perfect day machen – ohne die Stinkstiefeleien, für die das Velvet Underground-Gründungsmitlied vor allem in den letzten Jahren in Journalistenkreisen berüchtigt war.

Am 23. Juni wird die Buchpreisgewinnerin Terézia Mora in Göttingen gastieren. Im Gepäck hat sie ihr Ungeheuer (Luchterhand 2013), ein »stilistisch virtuoser, perspektivenreicher Nekrolog und eine lebendige Road-Novel« gleichermaßen, wie die Buchpreisjury die Vergabe begründete. Ob es genauso schwer sein wird, ihren durch einen schwarzen Strich getrennten Zwei-Perspektiven-Roman zu lesen, wie Mora ins Literarische Zentrum zu bekommen, bespricht die Autorin mit der FAZ-Redakteurin Sandra Kegel.

Dem Ungeheuer folgen eine Woche später Nora Gomringers Monster Poems (Voland & Quist 2013), ein lyrisches Gruselkabinett, in der die bekanntesten Monster der Popkultur ausgestellt werden. Die Poetry-Slammerin und Lyrikerin brilliert nicht nur mit ihrer einnehmenden Performanz, sondern auch durch ihre bissfesten, luziden Texte. Und sie ist witzig, Teufel noch eins! Vielleicht wird der Abend deswegen als Crossover-Veranstaltung angekündigt, der sowohl im Kinder- als auch im Hauptprogramm aufgeführt ist.

Arne Bellstorfs Graphic Novel Baby´s in Black (Reprodukt 2010) spricht ebenso die älteren Semester wie auch die Minis, Hüpfer oder Teens an. Für poetologische Klassifikationen oder gar Altersempfehlungen ist die Graphic Novel ohnehin (noch) nicht geeignet; umso besser, dass sich das Zentrum auch hier einer Zuordnung verweigert und die Veranstaltung in beiden Programmteilen ankündigt.

Das noch von Marit Borcherding hauptverantwortlich geplante Programm »Literatur macht Schule« ist gewohnt vielfältig: Gesa Husemann lobt darin vor allem Anne C. Voorhoeves informatives und gekonnt geschriebenes Jugendbuch Nanking Road (Ravensburger 2013), das ein ungewöhnliches Flüchtlingsdrama aus dem Zweiten Weltkrieg erzählt und das die Autorin am 10. März in der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule vorstellen wird. Mitunter durch seinen raffinierten Zugang zum Thema dürfte auch Nikolaus Nützels Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg (Ars Edition 2013) Begeisterung hervorrufen. Der Autor vermittelt in jugendgerechter Sprache die psychischen Auswirkungen dieser ersten zivilisatorischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein und wird dies an fünf Lesungen in nur zwei Tagen unter Beweis stellen.

Zum Sport. Als Auftakt zur Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien macht Fabian Lenk am 11. Mai Kinder ab acht Jahre mit seinem Zeitreise-Fußball-Detektiv-Krimi Wunder von Bern (Ravensburger 2014) ballverrückt. Dieser Nachmittagsveranstaltung schließt sich ein ausgiebiges Gespräch um Klaus Zeyringers im Fischerverlag erschienene Geschichte des Fußballs an. Erinnernd an die weisen Worte des Jürgen Klinsmann, Fußball sei ein Kulturgut, geht es bei diesem Vorfreude-Festival mit Tipp-Kick und Krökeln nicht nur um interessante Fakten des beliebtesten Sports der Deutschen, sondern auch um seine kulturelle Verortung hierzulande.

Das Saisonfinale wird am 19. Juli mit dem Kleinen Sommerfest angegangen. Dazu ist niemand geringeres geladen als der schon nicht mehr als Geheimtipp gehandelte, sondern als »Buchpreisgewinner der Herzen» titutlierte Saša Stanišić. Nach seinem Erstlingswerk, das in über 30 Sprachen übersetzte Wunderbuch Wie der Soldat das Grammofon repariert, spricht er nun mit der Literaturkritikerin Catharina Koller über die skurrilen Figuren seines neuesten, komikgeladenen Romans Vor dem Fest (Luchterhand 2014). Der Titel soll an diesem Abend Programm sein, denn nach der Lesung wird der Autor zum DJ und lässt die Neunziger an den Turntables wieder aufleben.

Das Team des Literarischen Zentrums – das sind in der dieser Saison neben den Leiterinnen Dr. Anja Johannsen und Gesa Husemann die Volontärinnen Nikola Müller, Annie Rutherford, Marisa Rohrbeck und Astrid Schwaner – konnte ein überzeugendes, ideenreiches Frühlingsprogramm präsentieren. Kanon, Glamour und ganz viel Tod. So könnte man es zusammenfassen und das würde der thematischen Breite natürlich trotzdem nicht gerecht werden. Denn gerade die jungen Autor/innenveranstaltungen und der Fußball sind konzeptionelle Fußabdrücke, die Gesa Husemann hinterlässt und die zur Zielgruppenerweiterung des Hauses beitragen könnten.



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 Veröffentlicht am 11. Februar 2014
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