Der demografische Wandel scheint unaufhaltsam und gerade ländliche Regionen sind von ihm betroffen. Welche Chancen sich jedoch im strukturellen Wandel verbergen können, zeigt die Uraufführung des dokumentarischen Theaterstücks 2030 – Odyssee im Leerraum im Jungen Theater Göttingen. Dabei werden die Veränderungen allerdings teilweise zu optimistisch dargestellt.
Von Anika Tasche
Das Statistische Bundesamt stellte in einer Studie 2015 fest, dass bei einer schwachen Zuwanderung die Bevölkerungszahl Deutschlands im Jahr 2050 nur noch knapp 72 Millionen Menschen, also 10 Millionen Menschen weniger als heute, betragen wird. Hinzu kommt, dass die Zahl der älteren Einwohner steigen wird, so dass im Vergleich zu heute fast doppelt so viele über Achtzigjährige in Deutschland leben werden.
Diese Veränderungen machen auch vor der Region Göttingen nicht Halt. Im Jahr 2000, so erfährt man im Stück Odyssee im Leerraum, lebten noch eine halbe Million Menschen in Göttingen und Umgebung. Im Jahr 2030 werden es nur noch 400.000 sein und wenn die Entwicklung sich nicht ändert, so wäre Göttingen 2155 menschenleer. Doch dabei werden Fort- und Zuzüge außen vor gelassen. Es besteht folglich noch Hoffnung für die Region Göttingen, in der Zukunft weiterhin bevölkert zu sein. Dennoch wird der demografische Wandel sich fortsetzen und die damit einhergehenden Herausforderungen werden bestehen bleiben. Wie jedoch optimistisch mit dieser Entwicklung umgegangen werden kann, zeigt das dokumentarische Theaterstück von JT-Intendant Nico Dietrich.
Diverse O-Töne aus der Region
Bevor allerdings die Handlungsoptionen der Orte vorgestellt werden können, müssen die Zuschauer Göttingen verlassen und eine Wanderung weiter in den Süden Niedersachsens unternehmen. Unter gemeinschaftlichem Gesang des Bergmannslieds »Glück auf« geht die Reise los und das Junge Theater wird umwandert. Wie passend das Volkslied für die Produktion ist, werden die Theaterbesucher noch erfahren. Es folgt eine Einführung, bei welcher den Zuschauern Statistiken zur Bevölkerungsentwicklung in Göttingen und Region dargelegt werden, überzeugend vorgetragen von Götz Lautenbach, der wie alle anderen Schauspieler des Abends immer wieder in unterschiedliche Rollen schlüpft. Der Einstieg lässt keinen Zweifel, es muss etwas getan werden, um der unbequemen Realität entgegenzuwirken. Unbequem ist der Beginn auch für die Zuschauer, denn anstatt es sich auf ihren Plätzen gemütlich zu machen, findet der Anfang im Stehen statt. Erst danach wird der eigentliche Schauplatz des Abends geöffnet und die Theaterbesucher dürfen die Bühne, welche das Ziel ihrer Wanderung war, verlassen und im Zuschauerraum Platz nehmen. Dieser ähnelt allerdings nicht dem üblichen Bild des Jungen Theaters, sondern die Plätze befinden sich an der Längsseite des Raumes, dem gegenüber der Ort des Geschehens aufgebaut ist.
Unzählige MöglichkeitenJe weiter entfernt ein Ort vom »Magnetfeld Göttingen«, desto mehr ist er vom strukturellen Wandel betroffen. So ergeht es auch dem 720-Seelen-Dorf Jühnde, 13 km südwestlich von Göttingen. Ein Dorfbewohner, dargestellt von Benjamin Wilke (Schauspielschule Kassel), berichtet in Gummistiefeln auf einem Strohballen sitzend, wie erst die Bank des Ortes geschlossen wurde und lediglich ein Geldautomat blieb. Das Gebäude wurde anschließend von einem Dachdecker gekauft, der dann jedoch insolvent ging. Nun ist von der ehemaligen Bank nur noch das leerstehende Gebäude übrig geblieben. Solch eine soziale Abwärtsspirale ist wohl nicht nur in diesem Dorf ein Problem. Was jedoch wirklich nur in Jühnde vorzufinden ist, ist die Bio-Energie-Anlage Jühnde 2.1. Durch das Projekt des Interdisziplinären Zentrums für Entwicklung der Universität Göttingen wurde der Ort zum ersten Bioenergiedorf Deutschlands, welches versucht, alleine durch regenerative Energien seinen kompletten Energiebedarf zu decken. Und die Resonanz ist positiv: »Jetzt sind zehn Jahre um – Jühnde war nie kalt«.
Ähnlich positiv geht Osterode mit der negativen demografischen Entwicklung um. Der Bürgermeister weiß, dass die sinkende Einwohnerzahl kaum aufzuhalten ist, daher legt er seine Ressourcen schon jetzt für eine geringere Bevölkerungszahl aus. So soll die Abwasseranlage auch noch funktionieren, wenn Osterode zweitausend Einwohner weniger hat. Die Stadt versucht, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Selbst als DIE WELT im August 2015 titelte: »Diese deutsche Stadt stirbt am schnellsten« und über ihren »Besuch in der Stadt der beigen Hosen« berichtet, ließen sich die Osteroder nicht unterkriegen und starteten zusammen mit der Werbeagentur Harzkind einen Wettbewerb, bei welchem jeder Einwohner sein persönliches Foto in beiger Hose einreichen sollte. Die Initiative hatte Erfolg, wie die während des Vortrags von Götz Lautenbach auf eine Leinwand geworfenen Fotos beweisen, und in Osterode »ist beige nun das neue schwarz«.
Unzählige solcher positiven Fakten und Beispiele werden in der Inszenierung gezeigt. Zeitweise entsteht der Eindruck, dass der demografische Wandel, der nun wirklich keine positive Entwicklung für ländliche Regionen vorhersagt, etwas Tolles ist. Lediglich ab und an werden Ängste deutlich wie beispielsweise beim Bürgermeister von Seesen, wenn er vom strukturellen Wandel der Stadt berichtet, in welcher kein Kino und keine Diskothek mehr vorzufinden ist.
Naheliegend ist, dass in diesem Zusammenhang die Diskussion um Flüchtlinge eingebunden wird. Ein Thema, das momentan überall diskutiert wird und so auch in Odyssee im Leerraum. Bieten Flüchtlinge eine Chance für aussterbende Regionen, indem sie wieder Leben in die Kleinststädte und Dörfer bringen? Sie lassen zumindest nicht nur die Einwohnerzahlen (vorübergehend) ansteigen, sondern »bringen die Menschen auch zusammen«, so zumindest die Meinung von zwei Ehrenamtlichen der Flüchtlingshilfe Osterode, dargestellt von Agnes Giese und Eva Maria Hamm, die beide den puren Optimismus vermitteln. Sie erklären mittels verschieden farbiger Mülleimer, wie sie den Asylbewerbern in Deutschland die Mülltrennung beigebracht haben. Während andernorts Flüchtlingsheime brennen, so scheint in den als Beispiel gewählten Orten selbst die Integration zu glücken.
Fülle an FaktenDie Informationsflut in dieser Produktion ist groß, manchmal vielleicht sogar zu groß, doch dank der treffenden Veranschaulichung durch gut gewählte Utensilien ist für die Zuschauerin alles nachvollziehbar. Hinter der eigens für dieses Stück aufgestellten Bühne befindet sich eine Projektionsfläche, auf welcher mittels Overheadprojektor diverse Fotos präsentiert werden. Sie unterstreichen das Gesagte, sind jedoch teilweise sehr redundant, wobei sie oftmals zur Auflockerung der Stimmung beitragen. So wird eine Vision des Seesener Bürgermeisters, die Kleinstadt zu Dubai zu machen, originell inszeniert, wenn ein Foto der Wüstenmetropole samt Kamel gezeigt wird, auf welchem ebenso das Ortsschild von Seesens prangt.
Die Schauspieler und ihre Leistungen rücken in den Hintergrund und die gut dargelegten Daten und Fakten stehen im Fokus, so dass der dokumentarische Charakter durchaus überzeugend ist.
Letztendlich ist die Grundidee des Stücks – den Strukturwandel optimistisch anzugehen –, äußerst interessant und wird gut vermittelt. Zeitweise wird der ganze Optimismus jedoch anstrengend und wirft die Frage auf, wie nachhaltig manch vorgestellte Strategie wirklich ist. Dennoch wird der Leerraum zu einem Lehrraum, denn der demografische Wandel kann Chancen bieten, wenn denn der Mut zur Veränderung vorhanden ist.