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Von Fäden und Fetzen

Es braucht sieben Seiten, um zwei Minuten Leben zu erzählen, die alles verändern. Der Versuch, das Geschehene ins eigene Leben einzuordnen – oder andersrum? – benötigt 500. Philippe Lançon ist einer von elf Überlebenden des terroristischen Anschlags auf die Redaktion der satirischen Zeitschrift Charlie Hebdo vom 07. Januar 2015 in Paris. Im Zuge des Angriffs verlor er große Teile seines Kiefers und musste sich 17 Operationen unterziehen, um sein Gesicht wiederherzustellen. Meisterlich erzählt die im Deutschen mit Der Fetzen betitelte autobiografische Aufarbeitung vom Grauen, von der existenziellen Explosion, die Lançons Leben beendete und ihn zwang, ein neues zu beginnen.

Von Mara Becker

Eine Erzählung wie ein trockener Knall

»Wie lange braucht man, um zu spüren, dass der Tod kommt, wenn man nicht mit ihm rechnet?« Es wäre naheliegend gewesen, das Buch mit dem Attentat beginnen zu lassen. Und tatsächlich erscheint es zunächst unnötig, fast quälend, wie Lançon über fast einhundert Seiten in den wenigen Stunden vor dem Attentat verweilt. Er beschreibt seinen Theaterbesuch am Vorabend und seine gute Freundin, die ihn begleitete – und später keine Erwähnung mehr erfährt. Wo sein Alltag greifbar wird; wenn Lançon von

Buch


Philippe Lançon
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Der Fetzen
Tropen: Stuttgart 2019
551 Seiten, 25,00€

 
 
Plänen erzählt, eine Besprechung des Stücks zu verfassen, da räumt er auch einer nie stattgefundenen Zukunft Platz ein und berichtet von seiner Freude über die Zusage, bald ein Semester in Princeton unterrichten zu dürfen. Auch von seiner Morgenroutine schreibt er und, verweilt dabei bei Details, die anstrengen und überflüssig scheinen – so lange, bis das Attentat schließlich Einzug hält in die Welt des Autors. Auch wenn man vorgewarnt ist, erwischt einen die Beschreibung des Angriffs auf Charlie Hebdo kalt: die Gewalt, die Plötzlichkeit, die Schnelligkeit. Dazu trägt vor allem Lançons Schreibstil bei, weniger die tatsächlichen Vorgänge – die sind nämlich gar nicht so präsent, und es beschleicht einen zunehmend das Gefühl, dass sie auch gar nicht wichtig sind. Wen kümmert es, wer zuerst starb? Wie wichtig ist es, zu wissen, dass es zwölf Tote gab? Warum interessiert es, ob Lançon zuerst getroffen wurde und danach zu Boden ging – oder andersherum?

Stattdessen ist es die Erzählweise, die die Lesenden packt und – dank der sensiblen wie genauen Arbeit von Nicola Denis – rhythmisch und stilistisch auch in der deutschen Übersetzung einen unverwechselbaren Sound erzeugt. Zugleich kleinteilig als auch distanziert berichtet der Autor von seinen Eindrücken und den Gedankenfetzen, die ihm durch den Kopf gingen. Von den Dingen, die er sah und die er nie richtig in Zusammenhang bringen wird. Manchmal erinnert das an die Texte von Édouard Louis, diese analytische Beobachtungsgabe, die sich mit reinster, emotionsgeladener Fassungslosigkeit die Waage hält. Das erste Fünftel des Buchs, das so quälend genau auf einen Mann eingeht, dessen alltägliches Leben nicht sonderlich erzählenswert erschien, offenbart sich plötzlich als eine Spurensuche Lançons. Hier versucht er, sein altes Ich zu fassen, resümiert die letzten Schritte des vorherigen Lebens – des Lebens, in dem er »leichtfertig« war, »ein einfacher Journalist«.

Ja, es geht nahe, wie Lançon sein eigenes Ich zu Grabe trägt und sich so fern von allem, was er war und was ihn umgab, fühlt, wie es nur vorstellbar ist. Besonders die Beschreibung des Schockzustands direkt nach den Schüssen berührt: Von einem anderen Mann spricht der Autor da, einem Mann, der unter ihm liegt, weil er selbst schwebt, irgendwo über seinem eigenen Körper wabert und Bruchstücke der Umgebung wahrnimmt. Derjenige, der unter ihm, ganz nah an seinem geschundenen Körper, verharrt, geht pragmatischer an die Sache heran: »Wir müssen aufstehen, sie sind weg«, drängelt dieser, doch Lançon – beziehungsweise sein Schock-Ich – sieht sich noch nicht im Stande dazu. Den Lesenden bleibt nichts anderes übrig, als mit ihm auf dem blutgetränkten Boden des Konferenzraums, nur wenige Meter neben toten Freund*innen und Kolleg*innen, zu verweilen und Schritt für Schritt – so wie Lançon selbst – eine Bestandsaufnahme zu machen. Wo tut es weh? Was ist beweglich? Was ist lebendig?

Der lange Weg nach vorne

Zu seinen ersten Eingebungen gehört es, seine Mutter anzurufen. Als er sein Handy zückt und sein Gesicht im Display wiedergespiegelt sieht, erkennt er: Bis zur Nase ist alles instand, doch darunter – ein »Krater aus zerstörtem, herabhängendem Fleisch, der von der Hand eines kindlichen Malers zu stammen schien, wie ein dicker Deckfarbenklecks auf einer Leinwand.« Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß ist, dass er sich im Laufe der nächsten zwei Jahre insgesamt 17 Operationen wird unterziehen müssen. Man wird ihm an die Stelle des Kiefers das rechte Wadenbein transplantieren, eine Vene und ein Stückchen Beinhaut als Kinn formieren. Er wird sich einen Bart wachsen lassen, der die Narben, den »Flickenteppich aus Haut«, wie er ihn nennt, verdeckt.

Lançon berichtet detailliert von diesem Weg zurück zum Gesicht. Er berichtet von den Operationen, die Chloé, die junge, pragmatische und dickköpfige Ärztin, durchführt; von der besonderen Beziehung, die sich zwischen den beiden entwickelt. Er nennt sie immer wieder eine »Fee«, und es sind ihre Worte, die das Buch beschließen. Der Genesungsweg ist kein vollendeter und er ist auch kein zu vollendender. Auf 400 Seiten dokumentiert er Rückschläge, Fortschritte, Stillstehen – immer sensibel, immer kunstvoll, immer literarisch.

Was Halt gibt

Dieser Text ist nach innen gekehrt, leise. Er scheut nicht davor zurück, Fragen zu ignorieren, die sich den Lesenden mit Sicherheit aufdrängen. Wer sind diese Attentäter? Was genau geschieht in den Räumen von Charlie Hebdo? Auch dieser Aspekt von Lançons Text trägt zu seiner Stärke bei. Den Tätern wird kein Raum gelassen, der Autor lässt sich nicht dazu hinreißen, zu spekulieren. Lançon will nicht erklären, was genau passiert ist. Vielleicht ist das auch gar nicht möglich. Er selbst sagt, er habe sich mit diesem Buch nicht »zurück ins Leben geschrieben«, sondern er habe erst begonnen zu schreiben, als es ihm besser ging. »Der Fetzen« besteht aus Reflexionen, aus dem Nachspüren der eigenen Wahrnehmungen und der Frage, wer man ist, wenn alles, was man war, zunichtegemacht wurde – es ist ein Ergebnis von Nähe und Distanz zugleich.

Wie wohlgewobene Fäden durchziehen Lançons Überlegungen dabei lange Auseinandersetzungen mit Kunst und Literatur. Wie Wegweiser scheinen sie ihm Orientierung in einer Welt zu geben, die er nicht versteht Seine Krankenhausaufenthalte sind geprägt durch Gespräche mit Chloé über die Schriften von Proust, Houellebecq und Mann. Der erwähnte Theaterbesuch am Vorabend des Attentats eröffnet das Buch. Und immer wieder gewährt Lançon Einsichten zur Poetik:

Wenn Schreiben darin besteht, sich alles Fehlende auszumalen, die Leere durch eine gewisse Ordnung zu ersetzen, dann schreibe ich nicht: Wie könnte ich die geringste Fiktion erschaffen, nachdem ich selbst von einer Fiktion verschluckt worden bin? Wie ließe sich auf solchen Ruinen eine Ordnung begründen?

Ob es gelungen ist, eine Ordnung auf dem Geschehenen zu begründen, bleibt offen: Lançon endet mit dem Abend des Attentats auf das Pariser Konzerthaus Bataclan, von dem er während eines Aufenthalts in New York erfährt. Ein Freund ruft ihn an, will ihn davor bewahren, durch Zufall von den Geschehnissen zu erfahren. Dennoch kehrt das Trauma zurück. Lançon liest sich plötzlich hilflos, fragend, ohnmächtig ob der Tatsache, dass ihn einholt, was er vergangen wähnte. Er bietet kein Heilmittel, keinen goldenen Weg aus dem Grauen, aus dem Unbegreiflichen. Stattdessen zeichnet er Kontinuität, wo keine sein sollte, und scheut sich nicht, die eigene Angst nachfühlbar zu machen.



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 Veröffentlicht am 3. Juli 2019
 Kategorie: Belletristik
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